Parallel Worlds
Mathias Güntner

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Wer die Welt von Jacob Dahlgren (*1970 in Stockholm, S) betritt, begibt sich auf eine Reise, die an längst vergessene Kindertage erinnert; in der die Lust am Schauen und Erkunden einer Bildwelt evoziert wird, die mit Vetrautem spielt und ständig aufs Neue verzückt. Alice im Wunderland lässt grüßen. Erfrischend ungehemmt stellt sich diese Welt von Jacob Dahlgren dar: voller bunter knalliger Farben, klarer Strukturen und Formen, und natürlich, dies kann in diesem Zusammenhang nicht weiter verwundern, tauchen auch immer wieder Spiegel in seinen Arbeiten auf. Eine Parallelwelt, die scheinbar nach bekannten Gesetzen funktioniert, dann jedoch ihre Eigenheiten und Wunder preisgibt.

Dahlgrens Materialien sind häufig banal und alltäglich, Gebrauchs- und Alltagsgegenstände, die für einen anderen "kunstfremden" Zweck produziert wurden: Plastikbügel, Joghurtbecher, Dartscheiben, Buntstifte, Spiegel(-folien), Schwämme, Seidenbänder u.s.w., oder solche "trivialen" Materialien, die den Baumärkten dieser Welt entstammen. Dennoch ist seine Kunst weit davon entfernt, als "Trash" gelesen werden zu können. Dazu ist sein Gespür für den Umgang und Einsatz des Materials zu kontrolliert und zu klar konzipiert. Die Formensprache Dahlgrens rekurriert auf Seherfahrungen, die den Betrachter an verschiedene künstlerische Stile des 20. Jahrhunderts wie Konstruktivismus, Op Art, Minimal Art und Pop Art erinnern. Seinen Bildkompositionen, raumgreifenden Skulpturen und Installationen wohnt jedoch bei aller formaler Strenge etwas lustvoll Befreiendes inne, das an den Spieltrieb des homo ludens appelliert. Hier scheint eine neue Gesetzmäßigkeit durch, die dem Lustprinzip und der Attraktion gilt. Beispielhaft die Arbeit "I, the world, things, life", die Dahlgren im letzten Jahr für das Kunstmuseum Norrköping in Schweden realisierte: Eine große Ausstellungswand behängte Dahlgren über- und nebeneinander dicht an dicht mit ca. 900 schwarz-weißen Dartscheiben, so dass sich aus der Entfernung der Eindruck einer wohl kalkulierten Arbeit der Op-Art einstellte - die Auflösung der Fläche zugunsten eines riesigen Rotationsfeldes. Einige Meter davor deponierte Dahlgren eine Kiste mit roten Dartpfeilen und nahm das Op-Art-Gebilde unter Beschuss. Ganz sicher eine lustvolle Aktion, aber darüber hinaus auch kluge Referenz an den kunsthistorischen Zitatenschatz der letzten 50 Jahre. Die Auflösung des starren Bildraumes (Op-Art) mit den Mitteln der Alltagskultur (Dartspiel) ermöglichte in dieser Form auch eine Fortschreibung des "Action Paintings".

Ebenso repräsentativ für Dahlgrens Arbeit ist die Rauminstallation "The possibility of eternal conceptual misunderstandings", die er 2003 in Helsinki schuf. Im Ausstellungsraum verteilt standen zahlreiche Skulpturen aus meist mehrteiligen Spiegelglas-Kuben. Übereinander gestapelt und in unterschiedlichen Formaten fanden sich hier Anleihen an das Formenvokabular der Minimal Art (Donald Judd) und an die (Architektur-) Entwürfe der russischen Konstruktivisten (El Lissitzky). Die Spiegel- Oberflächen der Kuben warfen alles zurück und spiegelten die Reflektionen wiederum neu, so dass die klaren Formen in der Wahrnehmung aufgelöst wurden und zu einem schwer bestimmbaren Raumbild verschmolzen. Darin spielten auch die Wände eine tragende Rolle, an denen bunte Streifenbilder in unterschiedlichen Formaten hingen - ein eindrucksvolles Kaleidoskop aus 2-dimensionaler Malerei und 3-dimensionaler Skulptur.

Das grenzüberschreitende Spiel im Werk Jacob Dahlgrens sorgt für Irritation, die bis in den Lebensalltag hinein reicht. Seit Jahren sammelt und kauft der Künstler überall in der Welt Streifenshirts und verfügt aktuell über einen Fundus von mehr als 800 Stück, die er als Vorlage für seine Malerei und bei Aktionen und Performances einsetzt. So wie vor kurzem in Stockholm geschehen, als 350 Personen in gestreiften Shirts eine große Shopping Mall als "Lebende Bilder" bevölkerten. Modische Accessoires werden auf diese Weise künstlerisch und körperlich verfügbar gemacht und umbesetzt - die Sphäre der Alltagskultur ist von der Sphäre der Kunst nicht mehr eindeutig zu trennen.

Im Kunstverein Harburger Bahnhof zeigt Jacob Dahlgren eine Arbeit, die im weitesten Sinne in der Tradition der "Streifenmalerei" steht. Sie ist eigens für den Raum (das ehemalige Stellwerk der Bahn) konzipiert, der seit April 2005 dem Kunstverein als zweiter Aktionsraum neben der eigentlichen Ausstellungsfläche zur Verfügung steht: Ein Bühnenraum mit ansteigender Empore, Sitzbestuhlung und einer Bühne für Vorstellungen - ein Theaterraum und kein "white cube".

Dahlgren nutzt die Bedingungen des Raumes konsequent für seine eigene Formensprache und schafft auf der Bühne des "Stellwerks" ein klares Bild, das wie ein abstraktes Gemälde den Bühnenraum beherrscht. Auf einer Fläche von 4 m Höhe, 9 m Breite und 5 m Tiefe breitet sich seine Arbeit aus. Sie besteht aus Tausenden von Seidenbändern (insgesamt 32.000 Stück mit einer Gesamtlänge von 160 000 Metern), die dicht an dicht in bunten, schillernden Farben nebeneinander hängen und Erinnerungen an die minimalistischen Kompositionen von Agnes Martin oder Barnett Newman wachrufen. Der Betrachter kann sich mit der "reinen" Seherfahrung der Arbeit begnügen und die Installation als 2-dimensionales Bild betrachten - oder aber er wird interaktiv tätig und tritt in das Bild von Jacob Dahlgren hinein. Je tiefer er dabei in den skulpturalen Raum aus dichtgehängten Seidenbändern eindringt, umso stärker wird sein Gefühl sein, die Kontrolle über den umgebenden Raum zu verlieren.

Mathias Güntner
Text zur Ausstellung im Kunstverein Harburger Bahnhof